Wenn sich der Körper selbst heilt – wozu brauchen wir dann die Medizin? Das fragt der Autor und Dozent Bruno Martin, der auch der Verfasser unseres großen Online-Lexikons ist.
Von Bruno Martin
Die Überschrift mag für viele kranke Menschen und Mediziner eine Provokation sein, doch immer öfter stellt sich heraus, dass die Selbstheilungskräfte des Körpers unterschätzt werden. Wer einmal anfängt, zu recherchieren, wird zahlreiche Beispiele dafür finden.
So sagen kritische Orthopäden, dass 80 Prozent aller Wirbelsäulenoperationen unnötig sind, weil sich bei einem Bandscheibenvorfall die Wirbel bei entsprechender äußerer Behandlung oder Bewegungsübungen von selbst wieder in ihre ursprüngliche Position bewegen. Bei der Volkskrankheit Herzinfarkt wird behauptet, dass dieser durch verschlossene Arterien hervorgerufen werde. Die tatsächliche Ursache ist jedoch die Blockade des Nervensystems Parasympathikus durch Stress und andere Faktoren. Die Verminderung der Gefahr eines Herzinfarkts muss dabei nicht durch eine Operation geschehen, sondern, einfach gesagt, durch Entspannungsübungen, so dass der Parasympathikus wieder normal seine Aufgabe erfüllen kann.
Beide Beispiele zeigen, dass die körpereigene Intelligenz durchaus in der Lage ist, Probleme zu regulieren oder Gefahren in Schach zu halten. Selbstverständlich muss man Heilungsprozesse unterstützen, so dass sich der Organismus wieder regulieren kann. Jedoch sind die Selbstheilungskräfte des Körpers ausreichend intelligent, um Fehler zu korrigieren.
Wieso gebrauche ich den Intelligenzbegriff für ein natürliches Geschehen? Ist »intelligent« nicht eine Bezeichnung, die wir für uns Menschen reserviert haben und nur selten auf Tiere und Pflanzen anwenden, die sich ebenfalls intelligent verhalten? Üblicherweise wird Intelligenz als identisch mit dem Verstand betrachtet. Meiner Meinung nach lässt sich der Intelligenzbegriff durchaus auch auf das feine Zusammenspiel in unserem Körper anwenden. Medizinern, die nur die Funktionsweise des Körpers und seiner Organe im Blick haben, fällt es freilich schwer, mit »körpereigener Intelligenz« umzugehen.
Wenn der wissenschaftliche Standard besagt, dass bei einem Problem bestimmte Maßnahmen zu ergreifen sind, dann müssen sie diese anwenden, um nicht wegen »Kunstfehlern« belangt zu werden. Die Nothilfemaßnahmen bei einem Herzinfarkt sind im akuten Stadium auch durchaus sinnvoll. Doch ist der Patient dann über den Berg, sollte dafür gesorgt werden, dass der Parasympathikus wieder seine wichtige Funktion übernimmt. Gesundheit und Krankheit sind immer im Fluss, gerade weil in einem lebendigen Körper nicht für jede Anforderung ein geeignetes Programm aufgerufen werden kann. Die 50 Billionen Körperzellen mit ihren unterschiedlichen Aufgaben sind dafür viel zu komplex.
Jede wird von unübersehbar vielen Impulsen beeinflusst und reagiert darauf auf ihre Weise. Auf kleinstem Maßstab laufen auf Zellebene im Millisekundentakt unzählige Prozesse gleichzeitig ab, die immer den Notwendigkeiten des Gesamtorganismus angepasst werden müssen. Da sind »Entscheidungen« zu fällen – man kann sich vorstellen, welche Risiken einer »Fehlentscheidung« dabei dauernd mitspielen. Umso erstaunlicher ist, dass all diese körperlichen Prozesse meist höchst erfolgreich ineinandergreifen.
Die Zelle ist ein logistisches Wunderwerk
In jedem Körper, bei Tier und Mensch, laufen ständig fein abgestimmte Prozesse ab, die so organisiert sind, dass die schnellsten Computer sie wohl nie simulieren können. Biochemische Botenstoffe sammeln ständig Informationen über den Gesamtzustand des Organismus und sorgen dafür, dass der gesamte Zellverband seine Funktionsfähigkeit immer wieder neu reguliert. Diese körpereigene Intelligenz ist in unseren Zellen bereits angelegt. »Zellen treffen weise Entscheidungen, und sie handeln danach«, war das Fazit vieler Forschungen der Nobelpreisträgerin Barbara McClintock (1902–1992). Sie entdeckte die Transposons – umgangssprachlich »springende Gene« – und machte deutlich, dass viele Gen-Sequenzen nicht statisch, sondern flexibel sind. Transposons sind in der Lage, sich selbst aus dem Erbgut auszuschneiden und an einer anderen Stelle wieder einzufügen. Sie sind ein kreativer Faktor für genetische Mutationen, etwa die Veränderung der Farbe von Mais oder die Entstehung von multiresistenten Bakterien.
Die Gesamtabstimmung des Organismus funktioniert auch deshalb, weil eine Zelle an sich schon ein hochgradig intelligent organisiertes Gebilde ist. Innerhalb der Zelle findet eine fortlaufende Bewegung aller Teile statt. Ständig werden neue Proteine hergestellt, die sich auf kleinstem Raum in sehr charakteristischer Weise falten, damit sie Platz haben – eine Körperzelle ist ja winzig, nur wenige Mikrometer (0,000 001 Meter) groß. Die Proteine falten sich hauptsächlich zu spiralig geschraubten Helix-Strukturen und zu flachen Bändern.
»Mit den Proteinen erwirbt die Welt der Moleküle ›magische Kräfte‹. Wir haben es hier nämlich mit der Möglichkeit zu tun, dass ein Stoff lebendig wird«, schreibt Rupert Sheldrake. Proteine sind mobile Moleküle! Ein Beispiel sind die Muskeln, die daraus aufgebaut sind. Wenn sich die Muskelproteine nicht durch Verkürzung und Verlängerung bewegen könnten, wären wir starr wie ein Baum.
Doch diese Bewegung ist noch mehr: Es ist die koordinierte Bewegung vieler Millionen von Molekülen. In der Zelle geht es zu wie am Hamburger Hafen: Handelsgüter kommen an, müssen zugeordnet, zwischengelagert und losgeschickt werden. Im Großen wie im Kleinen ist es von großer Bedeutung, Staus und Kollisionen zu vermeiden, denn diese Transportprozesse sind lebenswichtig für jeden Organismus. Für den Transport in der Zelle sorgen Motorproteine, die wie kleine Containerwagen ihre Waren hin und her befördern. Sie benötigen Transportschienen, ohne die sie ziellos im Zytoplasma treiben würden. Diese Rolle übernehmen unter anderem die Mikrotubuli, lange, fadenförmige Strukturen von etwa 25 Nanometern Durchmesser und mehreren Mikrometern Länge, die sich durch die ganze Zelle ziehen. Durch aufwendige Untersuchungen haben Wissenschaftler nun herausgefunden, dass der Abstand 17 Nanometer beträgt (also 0, 000 000 017 Meter), den die Transportmoleküle einhalten. Die meisten Teile, die in der Zelle zu Hindernissen werden, sind kleiner als dieser Zwischenraum. So scheinen es die raffinierten Motorproteine zu schaffen, Cargo ohne jegliche Widerstände oder Verhakungen zum Ziel zu bringen.
Es wäre also zu mechanistisch gedacht, den Körper als »Biocomputer« zu betrachten, denn die »intelligente« Kommunikation des Zellverbands ermöglicht erst die Reaktionsflexibilität, die nötig ist, um jeder Herausforderung durch »ungeplante« Einflüsse und neu auftauchende Probleme begegnen zu können. Auch die neueren Erkenntnisse aus der Genforschung zeigen, dass die Zellen und ihre Gene nicht wie ein mechanisches oder digitales Uhrwerk funktionieren, sondern tatsächlich ein komplexes, ineinander verwobenes Netzwerk bilden, das sehr wohl allen neuen Anforderungen gewachsen ist. »Unsere Ansichten über die Transkription und die Gene müssen sich jetzt weiterentwickeln«, sagen Forscher des amerikanischen National Institute of Health. In ihren Untersuchungen wird auch bemerkt, dass das Netzwerk-Modell des Genoms »einige interessante mechanistische Fragen aufwirft, die noch zu beantworten sind.« In meinen eigenen Worten will ich diese Aussage so interpretieren: Das mechanistische Modell ist nicht mehr haltbar!
Ein kommunizierender Zellverband könnte zwar als das Bild einer Maschine gesehen werden, doch kann man im Labor keine Zellen zusammenbauen und sagen: »Nun lebt mal los!« Leben muss nach wie vor immer in einem autopoietischen Prozess gezeugt werden, selbst unter Laborbedingungen. Außerdem gehören zu jedem Lebewesen so grundlegende Dinge wie ein Lebenswille, Wahrnehmung, Gefühle und ein mehr oder weniger stark ausgeprägtes Gefühl für ein Selbst – auf das sich die Intelligenz zu fokussieren scheint. Also ist man beim Thema Intelligenz mit dem innersten Geheimnis des Lebendigseins verbunden, dem man sich nicht allein wissenschaftlich annähern kann, sondern nur in einer Verbindung aus Wissenschaft und Phänomenologie. Wir alle wissen, wie sich Leben von innen anfühlt, und wir beobachten andere Wesen, die sich ähnlich verhalten, die Lebenswillen und Gefühl zeigen. »Intelligenz in der Natur und im Körper« lässt sich gar nicht als etwas Abstraktes begreifen, weil wir genau das sind und uns selbst eben nicht als abstrakte Maschinen erleben.
Erneuerbarkeit ist ein Merkmal des Lebens Aufgrund der hohen Komplexität des menschlichen Körpers gibt es keinen eindeutig bestimmten Augenblick, in dem eine Krankheit beginnt. Die Symptome einer Erkrankung werden meist erst viel später wahrgenommen, während der Prozess der Erkrankung unbewusst womöglich schon eine geraume Weile andauert.
Ein Organismus funktioniert nie perfekt, gerade weil er lebendig ist. Anders als ein Fahrrad oder sonst ein mechanisches oder elektrisches Gerät kann und muss sich der Organismus bis zu einem hohen Lebensalter immer wieder selbst erneuern. Flexibilität und Erneuerbarkeit sind grundlegende Merkmale des Lebens. Und das erklärt zu einem gewissen Grad, dass ein Heilungsprozess dann entsteht, wenn die natürlichen Prozesse ins Gleichgewicht gebracht werden und wieder normal funktionieren.
Außerdem muss man auch die Ursachen eines Schmerzes oder einer Krankheit erforschen. Der intelligente Organismus kann eine »ungesunde« Lebensweise eine gewisse Zeitlang ausgleichen, aber je nach Veranlagung und Genmaterial eines Menschen entsteht irgendwann doch eine Erkrankung. Und selbst eine »gesunde« Lebensweise nach bestem Wissen schützt nicht vor einer Krankheit, da es ja immer vielfältige Faktoren gibt, die uns beeinflussen: Umwelt, Umfeld, Psyche, berufliche Anforderungen usw.
Krankheitsursachen sind vielschichtig und vielfältig, so dass es dafür meist keine allgemeingültige Erklärung geben kann. Ein wichtiger Faktor für die Erhaltung der Gesundheit ist meiner Meinung nach die Erhaltung und Stärkung der körperlichen und seelischen Vitalität, um möglichen schädigenden Einwirkungen von außen und innen wirksamer begegnen zu können. Körperlich und geistig aktive, lebensbejahende Menschen werden offenbar seltener krank – eine »Gesundheitsgarantie« gibt es dennoch nicht, denn das Risiko ist ein Teil des Lebens.
Genauso, wie Krankheit vielschichtig ist, kann Heilung auf vielfältige Weise bewirkt werden: durch chirurgische Eingriffe, chemische oder natürliche Mittel und viele andere Heilweisen. Doch Behandlungen, Medikamente und Zuwendungen sind letztlich nur Anstöße zur Selbstheilung des Körpers. Viele dieser Anstöße sind notwendig, damit die Selbstheilungskräfte im Körper »aufwachen«.
Wenn der Zustand eines Menschen sich mit einer schulmedizinischen oder alternativen Therapie bessert, lässt sich nicht mit Sicherheit erklären, worauf diese Besserung zurückgeführt werden kann. Ein eindeutiges Ursache-Wirkungs-Verhältnis gibt es nicht. Besonders deutlich wird dies beim sogenannten Placebo-Effekt. Dieser Effekt selbst ist ein »Wunder«, denn was bewirkt im Menschen – ohne eine tatsächlich »wirksame« Medizin -, dass es ihm bessergeht? Manchmal funktionieren medizinische Behandlungen
jeglicher Art, ein anderes Mal nicht.
Heilungsprozesse scheinen je nach medizinischer Weltanschauung erklärbar zu sein. Doch hinter allen Heilmethoden steht letztlich immer das Rätsel der intelligenten Selbstheilung des Körpers. Im Krankheitsfall sollten wir immer zuerst auf die Selbstheilungskräfte des Körpers vertrauen und sie bei ihrer Arbeit mit geeigneten, uns entsprechenden Maßnahmen unterstützen – vor allem mit unserer eigenen Intelligenz.
Autor: Bruno Martin
Artikel aus mystica.tv