Merkblatt
Emotionale Erste Hilfe für traumatisierte Menschen
Was nach einem starken individuellen oder kollektiven Schock zu tun – und was zu unterlassen ist:
- Zunächst sollen Betroffene versuchen, mit ihren Familien und Freunden zusammenzukommen, um sich gegenseitig zu unterstützen.
- Organisieren und treffen Sie sich in Gruppen: In der Nachbarschaft, in Gemeinschaftszentren, in kirchlichen Räumen oder an anderen Orten, wo Sie mit dem Erlebten nicht alleine sind.
- Isolieren Sie sich nicht.
- Versuchen Sie, so schnell wie möglich, Informationen über die Ihnen nahestehenden Menschen zu bekommen. Verfolgen Sie für kurze Zeit die Nachrichten am Fernsehen – aber schalten Sie den Apparat auch wieder für eine gewisse Zeit ab. Beschränken Sie sich darauf, den Fernseher höchstens alle zwei Stunden einzuschalten. Setzen Sie sich nicht wiederholt den traumatisierenden Bildern aus. Es ist äusserst wichtig, sich schnell wieder auf wohltuende und inspirierende Dinge zu konzentrieren, die unsere Gemütslage zu besänftigen helfen, uns stärken und erden. Suchen Sie den Kontakt zu möglichen Unterstützungs- und Beratungsstellen und verbinden Sie sich so mit wertvollen Ressourcen. Unternehmen Sie etwas, das Ihnen hilft, die Aufmerksamkeit auf anderes zu richten – zum Beispiel: Einen Spielfilm anschauen, stricken, kochen, Gartenarbeit verrichten, mit Kindern oder Kleintieren spielen, in die Natur spazieren gehen usw.
- Bleiben Sie aktiv, verrichten Sie z.B. freiwillige Arbeit im Spital oder anderen Institutionen, spenden Sie Blut. Wenn Sie dazu bereit und in der Lage sind, spenden Sie Geld. Oder bieten Sie den Spezialisten eigens eingerichteter Anrufstellen für verzweifelte Menschen Unterstützung an.
- Ermutigen Sie die Menschen, ihre Geschichten nicht ständig wieder zu erzählen – und halten Sie sich auch selber daran. Das stete Wiederholen und Erzählen des Erlebten vertieft und verstärkt das Trauma und baut es nicht ab, wie oft fälschlicherweise geglaubt wird. Das heisst nicht, dass Sie sich nicht gegenseitig unterstützen sollen, über die erlebte persönliche Tragödie und die ganze Katastrophe zu sprechen und zuzuhören – aber schalten Sie dabei von Anfang bis zum Schluss unbedingt Pausen ein. Versuchen Sie während diesen Phasen der Stille Ihren Gefühlen und Empfindungen nachzuspüren. Geben Sie Ihren Emotionen die Möglichkeit, sich auf rationaler Ebene (d.h. in klaren Gedanken) und in einer gewählten nützlichen Handlung auszudrücken. Das wird Ihnen helfen, Ihre Gefühle zu verarbeiten, ohne dass diese Sie überwältigen. Auf diese Weise werden Sie nicht in ein zwanghaftes Denkverhalten hineinmanövriert.
Psychologische Reaktion
Menschen können auf vielfältige Art und Weise auf Tragödien reagieren:
- Einige werden sich für eine gewisse Zeit in einem Schockzustand befinden, dissoziiert und wie betäubt. Sie werden sich möglicherweise benommen, leer und dumpf fühlen – wie abgeschnitten vom vorhandenen Schrecken und Schmerz.
- Kinder können extrem anhänglich werden und Albträume haben. Andere können auch aggressive Verhaltensweisen zeigen. Das ist normal. Das kann ein paar Tage oder auch länger dauern, aber es wird vorübergehen. Sie müssen sich ernst genommen und beschützt fühlen.
- Andere Menschen wiederum werden möglicherweise Angst haben und in tiefer Sorge sein, sich verwirrt fühlen, Wut spüren und Hilflosigkeit erleben. Diese Gefühle sind auch normal und werden vorübergehen.
- Wieder andere werden vielleicht auch besorgt sein, überaus wachsam („auf der Hut sein“) und sehr schnell reizbar. Sie müssen so bald wie möglich wieder etwas unternehmen und dabei wenn irgend möglich versuchen, sich kreativ auszudrücken – damit sie wieder ruhiger werden können. Auch der Kontakt zu Familienmitgliedern und Freunden kann ihnen helfen, sich zu beruhigen.
Physiologische Reaktion
Dass der Körper eine Reaktion auf den Stress zeigt, ist ganz natürlich. Lassen Sie sich davon also nicht beunruhigen. Es ist wichtig, Zeichen von „Aktivierung“ anzunehmen und sich vor verschiedenen Formen von Erregung nicht zu ängstigen
zum Beispiel:
- Das Herz schlägt schneller.
- Das Atmen macht Mühe.
- Der Blutdruck steigt an.
- Die Bauchgegend ist angespannt, im Hals bildet sich ein "Knoten".
- Die Haut ist kalt, die Gedanken rasen.
Diese Reaktionen werden alle verschwinden, wenn wir sie nicht bekämpfen.
- Einige Leute werden Schlafstörungen haben, zu viel essen wollen (Salziges und Süsses) oder ein anderes Suchtverhalten annehmen – zum Beispiel Alkohol oder andere Drogen konsumieren. Solchen Erscheinungen begegnet man am besten mit dem Versuch, sich solche und andere Impulse bewusst zu machen – und dabei zu akzeptieren, dass eine tiefe Verletzung und Verunsicherung da ist und dass alles vorübergehen wird.
- Alte, nicht aufgelöste Traumata können wieder aktiviert werden. Das gewohnte Gefühl von Vertrauen und Sicherheit gerät dann ins Wanken. Oft müssen betroffene Personen an ihren Namen, ihr gegenwärtiges Alter, an das aktuelle Datum und den Ort erinnert werden.
- Die Symptome können sehr unterschiedlich sein – manchmal sind sie stabil, manchmal verschwinden sie und tauchen wieder auf. Sie können einen Menschen auch mit geballter Wucht überfallen.
Hilfreiche Reaktionen
Wir können unser Nervensystem beruhigen und ins Gleichgewicht bringen, indem wir als erstes verstehen, wie es reagiert, wenn es übermässig belastet (stimuliert) wird. Beispiele für Überstimulation sind:
- Zittern, Schüttelfrost oder schwitzen
- Hitzewellen im Körper
- Übermässiges Gurgeln und Rumpeln im Bauch
- Der Zwang, immer wieder tief Atem holen zu müssen
- Weinen oder lachen.
All diese Körperreaktionen sind gut und richtig. Sie bedeuten, dass Energie entladen wird und sich der betreffende Mensch wieder auf eine innere Balance zu bewegt.
Wichtig ist dabei nur, aufmerksam und wertfrei zu beobachten, was im Körper geschieht – und zu wissen, dass der Körper die ihm innewohnende Fähigkeit besitzt, seine Balance selbständig wieder zu erlangen.
Dafür müssen wir ihn wahrnehmen lassen, was er spürt – und ihm die Zeit geben, das zu tun, was er braucht.
Was getan werden sollte
Es ist sehr wichtig, „geerdet“ zu sein!
- Setzen Sie sich auf einen Stuhl; fühlen Sie den Kontakt der Füsse mit dem Boden, drücken Sie mit den Händen auf die Oberschenkel, spüren Sie das Gesäss auf dem Stuhl und nehmen Sie auch den Rücken wahr, der von der Stuhllehne gestützt wird. Schauen Sie sich dann im Raum um und wählen Sie sechs Gegenstände aus, die Ihnen auffallen – die zum Beispiel alle rot oder blau sind. Das sollte Ihnen ermöglichen, ganz in der Gegenwart zu sein, besser „geerdet“ – und auch mehr im Körper. Achten Sie dabei, wie der Atem tiefer und ruhiger wird. Vielleicht spüren Sie in dieser Situation den Drang, nach draussen zu gehen und einen ruhigen Ort aufzusuchen, wo Sie sich ins Gras oder unter einen kraftvollen Baum setzen können. Nehmen Sie dort ganz bewusst wahr, wie Ihr Gesäss den Kontakt mit der Erde spürt – wie Sie gehalten und gestützt werden durch den Boden unter Ihnen.
- Die folgende Übung ermöglicht es Ihnen, den eigenen Körper als „Behälter“ wahrzunehmen, als ein Gefäss, das all Ihre Gefühle in sich trägt und zusammenhält. Klopfen Sie mit den Fingern Ihren Körper ab. Achten Sie darauf, dass die Handgelenke locker sind und die Eigenberührung bewusst und liebevoll ist. Vermutlich wird sich der Körper danach belebter, wacher, präsenter und vielleicht auch „kribbelnd“ anfühlen. Oft ist in einem solchen Zustand die Verbindung zu den eigenen Gefühlen klarer.
- Eine andere Übung besteht darin, die Muskeln anzuspannen – und zwar jede Muskelgruppe nacheinander: Kreuzen Sie die Arme über der Brust und halten Sie die beiden Schultern fest. Erhöhen Sie langsam den Druck und beginnen Sie dann, erst mit der einen und dann mit der anderen Hand, die Oberarme abzuklopfen. Machen Sie dasselbe mit den Beinen: Spannen Sie erst die Oberschenkel an und halten Sie sie von oben fest. Erhöhen Sie jetzt den Druck und beginnen Sie dann mit dem Abklopfen. Machen Sie das Gleiche auch mit den Waden. Spannen Sie danach erst den Rücken und dann die Brustpartie an. Lassen Sie die Spannung langsam wieder los. Das kann Ihnen oder Ihrem Partner helfen, das Gleichgewicht wieder zu finden.
- Sportliche Betätigung, Aerobics und Muskeltraining (auch Gewichtheben) können helfen, Depressionen zu vermeiden. Sie sind ein gutes Ventil, um Aggressionen loszuwerden. Wenn Sie an die Kraft des Betens glauben oder an eine höhere, grössere Instanz – beten Sie für die Ruhe der verstorbenen Seelen, für die Heilung der Verwundeten, für den Trost der Trauernden. Beten Sie für den Frieden, für Verständigung und Weisheit, für die Kraft des Guten – dass diese trotz allem überwiegen möge.
Geben Sie die Hoffnung und den Glauben an das tief im Menschen vorhandene Gute (Göttliche und Lebendige) niemals auf. Lassen Sie sich das Vertrauen in die Menschheit nicht nehmen
Und zum Schluss noch dies: Vergessen Sie nicht, dass wir Menschen ausserordentliche Widerstandskräfte haben und uns immer wieder von den widerwärtigsten und entsetzlichsten Tragödien erholen konnten. Ausserdem haben wir die Fähigkeit, uns durch unsere Traumata zu transformieren, wenn wir sie heilen und uns neuen Möglichkeiten zu öffnen.
Quelle: The Foundation for Human Enrichment – A non-profit educational Institute
(Übersetzung ins Deutsche: Antonia Remund und Urs Honauer, im Auftrag des Zentrums für Innere Oekologie und des Polarity Therapie Zentrums Schweiz, Konradstrasse 14, 8005 Zürich, http://www.polarity.ch/)
Siehe auch: https://www.helpguide.org/articles/ptsd-trauma/traumatic-stress.htm
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Merkblatt Emotionale Erste Hilfe für traumatisierte Menschen
Why We Need Emotional First Aid
Weiterführende Literatur:
- Trauma-Heilung
Das Erwachen des Tigers. Unsere Fähigkeit, traumatische Erfahrung zu transformieren – von Peter A. Levine - Sprache ohne Worte
Wie unser Körper Trauma verarbeitet und uns in die innere Balance zurückführt– von Peter A. Levine - Der Körper kennt den Weg
Trauma-Heilung und persönliche Transformation – von Johannes B. Schmidt - Verwundete Kinderseelen heilen
Wie Kinder und Jugendliche traumatische Erlebnisse überwinden können – von Peter A. Levine, Maggie Kline - Der Körper erinnert sich
Die Psychophysiologie des Traumas und der Traumabehandlung – von Babette Rothschild (Taschenbuch) - Dein Körper sagt dir, wer du werden kannst. Focusing - Wege der inneren Achtsamkeit
Werden, der ich bin; den ganz eigenen Weg gehen: dazu braucht es eine sichere Beziehung zu sich selbst und eine gute Intuition für das, was ansteht. Anregungen und Übungen für den Dialog mit sich selbst, der weiterbringt – von Klaus Renn (Taschenbuch)